Porträt Nr. 97 Tarek Eltayeb

 

Tarek Eltayeb wurde 1959 als Sohn sudanesischer Eltern in Kairo geboren und lebt seit 1984 in Wien; Studium an der Wirtschaftsuniversität Wien; Dissertation zum Thema „Der Transfer von Ethik durch Technologie im Kampf zwischen Identität und Profit“; arbeitet seit 1999 als Lehrbeauftragter am International Management Center/University of Applied Sciences in Krems, seit 2007 an der Karl-Franzens-Universität Graz sowie seit 2011 an der Universität Wien; seit 1985 schriftstellerische Tätigkeit; mehrere Projekt- und Reisestipendien für Literatur; Teilnahme am International Writing Program der University of Iowa 2008 (3 Monate); Lehrauftrag für Creative Writing Workshop (BTL) für junge arabische AutorInnen an der Universität von Iowa City 2009 und 2010; im Jahr 2011 Vertreter der modernen österreichischen Literatur bei der Tagung des Germanistenverbands in Pretoria, im Jahr 2012 am Lateinamerika-Germanisten-Kongress in Guadalajara; September 2012 einmonatige Lesereise durch den Sudan. Teilnahme an zahlreichen internationalen Literaturfestivals (u.a. in Mazedonien, Frankreich, Italien, GB, NL, USA, Venezuela, Nicaragua, China, VAE, Syrien, Ägypten) sowie Lesungen im In- und Ausland.


Publikationen in deutscher Sprache (Übersetzungen von Ursula Eltayeb):
Ein mit Tauben und Gurren gefüllter Koffer. Prosatexte und Gedichte. edition selene, Wien 1999
Städte ohne Dattelpalmen. Roman. edition selene, Wien 2000 (2005 in zweiter Auflage)
Aus dem Teppich meiner Schatten. Gedichte. edition selene, Wien 2002
Das Palmenhaus. Roman. Schiler Verlag, Berlin 2007
Er in Erinnerung. Gedichte. Schiler Verlag, Berlin/Tübingen 2012

In arabischer Sprache erschienen mehrere Gedichtbände, Romane und Kurzgeschichten, zuletzt der Roman Wa Atoof cAariyan (Nackt kreise ich) im Jahr 2018 in Kairo. Des Weiteren liegen Publikationen in französischer, spanischer, englischer, italienischer, serbischer, mazedonischer und rumänischer Übersetzung vor.

Leseprobe

 

Das Tor der Stadt

Uralt, unbeweglich,
schief und halb offen,
tief in der Erde,
auf ihm Zeichnungen,
verwitterte Buchstaben,
Kerben und Kratzer,
Staub auf ihm
und verblichene Farben
versunken im Holz.

Dort stand ich,
überschritt seine Schwelle
und trat wieder heraus,
ging auf und ab vor ihm
und las seine Inschriften
und verstand seine Zeichnungen,
ich strich über seine Kerben,
ich verweilte dort,
einem greisen Pilger gleich.

Eine alte Frau erschien
und sagte „Komm!“
Ich war froh, die Stadt zu betreten.
Weit weg in einem Hof sah ich Kamele,
dann ein Haus, eine Maueraus Palmblättern und Lehm.
Ich trat in eine alte Zeit,
tauchte ein in sie
und war ihr verfallen.
Der schrille Laut einer Hupe,
die Autos, die Menschenmenge
und der Lärm,
die blechernen Geräusche,
die vorüberrollenden,
aggressiv stampfenden Kolonnen,
das Klirren der Kaffeehäuser,
das kreischende Radio,
eine Stimme,
die tropfenweise Unglück fallen ließ,
erschreckten mich;

in der Ferne betete jemand allein,
in der Nähe rief einer in die Leere,
und der ganze Ort erbebte vom Lärm.


Inmitten des Gedränges
weckten mich die Augen eines Kindes,
das einen mürrischen
Alten hinter sich herzog.
Es lachte und eilte vergnügt
dem Schatten voraus,
der sich schleppte wie ein Greis.
Es erreichte das alte Tor,
betrachtete es und war erstaunt
über die Zeichnungen, die Kratzer,
die Kerben und die Buchstaben.

Das Kind trat vor dieses alte Tor.
Es lehnt sich daran,
und das Tor neigte sich.
Und ich war weit fort,
in Gedanken versunken,
und schleppte mich weiter
wie ein greiser Pilger
und neigte mich auch.

Wien, Café Eiles, 17.01.1998

*

Schwarz

Ich überquerte den Fluss,
und als ich das andere Ufer erreicht hatte,
war ich schwarz.
Ich rief meinem Begleiter am Ufer zu:
„Das Wasser ist wunderbar. Komm!“
Doch meine Farbe machte ihm Angst,
und er schwieg.
Ich forderte ihn auf,
den Fluss zu überqueren.
Er murmelte etwas,
und der Wind überbrachte mir
nur Bruchstücke seiner Worte.
Ich rief ihm zu,
näher zu kommen.
Doch mein Begleiter fürchtete sich
vor meiner Farbe,
und er hörte mir nicht mehr zu,
vergaß unsere Vergangenheit.
Jedes Jahr gehe ich zum Ufer,
rufe ihn unter all den Menschen,
bin knapp davor,
zu ihm zurückzukehren.
Doch ich fürchte,
dabei meine echte Farbe
und meine Sinne zu verlieren.

Weitersfeld, Niederösterreich,15.04.2006

*


Das zahnlose Meer

Es saugt noch immer nachts
an der Sonne
und tagsüber am Mond.

Wenn es weint,
trocknet es aus,
dörrt die Fische aus
wie Krätze,
macht die Walfische
zu Kämmen im Sand.

Je älter es wird,
umso mehr verzichtet es
auf Sonne und Mond,
freundet sich mit dem Wind an,
verzehrt sich nach den Abenteuern
der Piraten und der listigen Entdecker.

Es lacht schallend,
wirft ein Festland,
atmet ein
und verschluckt eine Insel.
Aber am Ende des Weges
taucht es ins Blau,
ohne den Unterschied
zu kennen
zwischen Meer und Himmel.
Es wird dünner,
trocknet aus
und stirbt
als zahnloses Meer.

Al-Mahdia, Tunesien, 11.09.2005

*


Gestrandet

Nachdem der junge Mann
gestrandet war,
das Meer ihn
hier ausgespien hatte,
blieb sein erschöpfter Körper
zwischen Hunden und Polizistenschuhen liegen.
Seine Seele war noch auf dem Weg,
würde auf irgendeiner Wolke nachkommen.

Er entdeckte sie,
als sie spät nachmittags
zu ihm herunterkam.
Mit einer Hand
an der Stirn
gegen die blendende Sonne
versuchte er,
sie mit der anderen Hand
von hier zu vertreiben,
sie davon abzuhalten,
in diesem Land zu landen.

Vergeblich.

Die Seele lag neben ihm,
und die Hunde
bellten sie an,
der Schuh eines Polizisten
stand schon auf ihr.

Weitersfeld, Niederösterreich, 01.05.2006

*


Das gläserne Gespräch

In den Restaurants und Cafés
sind Dinge nur kurzlebig.

Ein Glas fällt,
bricht,
die Kellnerin entschuldigt sich.
Das Glas stirbt,
ein anderes wartet schon.

Ein Glas fällt,
ein Gespräch bricht ab,
die Kellnerin entschuldigt sich.
Das Gespräch stirbt,
ein anderes wartet schon.

Maastricht, Café Zuid, 18.06.2006

*


Der Lauf der Gedanken

Sie hatte Mühe,
ihre Gedanken zu tragen.
Ich nahm sie ihr ab,
begleitete sie bis zu ihrem Ziel.
Sie bedankte sich
und schenkte mir einen ihrer Gedanken.
Der lief von links nach rechts.

Ich mühe mich noch immer damit ab,
ihn zu übersetzen,
damit er von rechts nach links läuft.

Wien, Café Westend, 21.06.2005

*

Tarek Eltayeb: Ausgewählte Gedichte. Vorwort: Helmut Neundlinger. 64 Seiten, 1 Abb., Euro 6,-. Podium (podium porträt 97) Wien 2019. ISBN 978-3-902886-42-2

 

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